Knobelsdorff in Mecklenburg?

Das sozialistische Mestlin - ein Musterdorf ohne Nachfolger

Schon bald nach Gründung der DDR begann die SED-Führung mit einer tiefgreifenden Umgestaltung der Produktionsverhältnisse in Industrie und Landwirtschaft, vorgezeichnet in den Fünf-Jahresplänen. Auf dem Land folgte man mit der berüchtigten Kollektivierung der teils erst kürzlich zu neuem Eigentum an Boden gekommenen Bauern sowjetischen Vorbildern. An die Stelle einzeln wirtschaftender Bauernhöfe traten Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG), in die die ursprünglich selbständigen Bauern ihr Land, teilweise auch ihr Vieh, Ställe und Scheunen einbrachten. Diese Art gebündelter Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse unter einheitlicher Anleitung erwies sich keineswegs als ungeeignet bei der Steigerung der Erträge. Was jedoch erst allmählich sichtbar wurde, war das Verschwinden traditioneller bäuerlicher Gesellschaftsstrukturen. Diese Umwandlungsprozesse auf dem Land waren von den politisch Verantwortlichen durchaus beabsichtigt. Die ländlichen Arbeits- und Lebensbedingungen sollten mit denen der Industriearbeiter nahezu identisch werden. Unter diesen Umständen würde sich ein neues sozialistisches Menschenbild formen. Tatsächlich erreichte die Zentralisierung landwirtschaftlicher Tätigkeit eine fortschreitende Proletarisierung der in Feldbau und Viehzucht eingesetzten, in vielen Dingen entmündigten Werktätigen, und durch die konzentrierte Produktion eine zunehmende Verwandlung dörflicher Identität, bis hin zu massiver Schädigung der natürlichen Ressourcen.

Zu den Maßnahmen bei der vorgesehenen Angleichung der Lebensbedingungen von Stadt und Land gehörte der Bau von Schulen und die Förderung von Kultur und Volkskunst. Bereits zu Beginn der 50er Jahre wurde beschlossen, in Mecklenburg ein "sozialistisches Musterdorf" zu schaffen, das Kulturangebot, Bildung und Einkaufsmöglichkeiten wie eine Stadt bieten sollte. Als Ort dieses - einmalig gebliebenen - sozialistischen Beispiels wurde ein mehr als 1000 Einwohner zählendes Dorf im Herzen des Bezirkes Schwerin ausgewählt, Mestlin im Kreis Parchim.

Ein vielversprechender Anfang

Im Juli 1954 genehmigte der Rat des Bezirkes Schwerin den Bauplan eines von diesem politisch maßgeblichen Gremium selbst in Auftrag gegebenen einzigartigen Vorhabens, für das der Architekt Erich Bentrup den Entwurf geliefert hatte.

Seine Aufgabe hatte darin bestanden, ein Zentrum für kulturelle Aktivitäten in räumlicher Harmonie und ökonomischer Zweckmäßigkeit unter einem Dach zu vereinen. Zu den unterschiedlichen Funktionen, die es erfüllen sollte, gehörten ein Hörsaal für Bildungsveranstaltungen, ein Gymnastik- und Tanzraum, ein Klubraum mit Gaststätte und vor allem ein Theater mit allen erforderlichen Funktionsräumen, der Vor-, Haupt- und Hinterbühne, Orchestergraben, den Künstlergarderoben, Schnürboden, einem Kulissen- und einem Requisitenlager u.s.w., Scheinwerferboden und Bildwerferraum, Besucherfoyer und Kassenhalle.

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Fassade nach Westen: Kulturhaus Mestlin, je sechs Achsen an den Seiten, Mittelrisalit (mit Dreiecksgiebel!) als Haupteingang mit den drei Achsen; horizontale Putzgliederung an den Eckzonen als Reminiszenz an Knobelsdorffs Rustika im Sockelgeschoß

Bentrup löste diese Aufgabe überraschend konventionell, indem er auf den bedeutendsten frühen Theaterbau Preußens, das Königliche Opernhaus Unter den Linden, 1740 bis 1743 durch Georg Wenceslaus von Knobelsdorff errichtet, zurückgriff und es den aktuellen Anforderungen gemäß modifizierte und geschickt weiterentwickelte.

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Bild 4b
Fassade nach Süden (Bühneneingang): Siebenachsige Schmalseite nach Süden mit (eingezogenem) Portikus von sechs Pfeilern / Pilastern.

Gemeinsamkeiten der beiden Entwürfe beziehen sich

  1. auf den Baukörper als Ganzes
  2. auf die räumliche Gliederung des Inneren
  3. auf Details der Fassadengestaltung
  • die Gliederung des gesamten Gebäudes in Sockel-, Haupt- und Mezzaningeschoß
  • die siebenachsigen Schmalseiten mit jeweils von sechs Pfeilern gegliedertem Mittelrisalit
  • die Betonung der Mitte der Längsseiten durch Risalite
  • Klubraum, Zuschauerraum und Bühne liegen in einer Achse aufgereiht

Lediglich Foyer und Kassenhalle gliederte Bentrup parallel zum Zuschauerraum, da dieser mit einem Parkett für ca. 500 Plätze unter Verzicht auf Ränge bzw. Logen und deren Treppenhäuser und Wandelgänge mit einer geringeren Breite auskam.

Die - von den Auftraggebern geduldete, weil nicht erkannte - Verwandtschaft der beiden Gebäude zueinander ist nicht ohne eine gewisse Pikanterie. Nur wenige Jahre zuvor war das Berliner Stadtschloß der Hohenzollern auf Ulbrichts Geheiß zertrümmert worden. Das Opernhaus, das Friedrich II. - Inbegriff des aufgeklärten, feudalen Herrschers des preußischen Absolutismus im 18. Jahrhundert - 1740 zu monarchischer Repräsentation und zu eigenem Vergnügen zu bauen befahl, der als Wunderwerk bestaunte Musentempel Unter den Linden in Berlin, sollte hier auf dem platten Land in dem mecklenburgischen Dorf Mestlin den neuen, von jeglicher Ausbeutung freien Menschen erziehen helfen und die Vision eines sozialistischen Dorfes krönen.

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Fassade nach Norden: (Mestlin: Zugang zur Gaststätte, Berlin: Publikumseingang): Siebenachsige Schmalseite nach Norden mit Portikus von sechs Pfeilern / Säulen Gliederung in Sockelgeschoß (in Mestlin weitgehend Souterrain), Hauptgeschoß und Mezzanin. Der Knobelsdorffsche Dreiecksgiebel erscheint bei Bentrup monumental gesteigert in der Form des Satteldaches. Das Motiv der rundbogigen Nische taucht in Mestlin als Eingangstür zur Küche (Treppe!) wieder auf.

 

Wenn das Mestliner Kulturhaus, dieses multifunktionale architektonische Kleinod aus Knobelsdorffschen Geist, dazu letztlich keinen nachweisbaren Beitrag leisten konnte, so lag das in erster Linie an den illusorischen Zielen, denen es gewidmet war. Als Abstecherort für Aufführungen des Mecklenburgischen Landestheaters Parchim konnte es kein Eigenleben entfalten. Um den Theatersaal zu füllen, hätten nahezu alle im erwerbsfähigen Alter befindlichen Erwachsenen des Ortes in die Aufführungen gehen müssen. Die Mobilität der ländlichen Einwohner war zu diesem Zeitpunkt - auch vor dem Hintergrund fehlender Freizeit - noch völlig unterentwickelt. Besucher aus Nachbargemeinden mußten umständliche Busfahrten in Kauf nehmen. Diese Tatsachen waren um so hemmender, als auch die Inhalte der Veranstaltungen kaum Anreiz zum Besuch boten. Ein Komplex vielfältiger Ursachen führte schließlich zum uneingestandenen Scheitern jenes fabelhaften Konzepts von der Kultur im sozialistischen Musterdorf. Im Vergleich zu dem immer mehr an Bedeutung gewinnenden Medium Fernsehen, das bald jeden Flecken des Landes erreichen konnte, blieb dem Mestliner Kulturhaus seit Mitte der 60er Jahre nurmehr ein Schattendasein vorbehalten.

Der heutige Zustand

Die inhaltliche Vernachlässigung über drei Jahrzehnte spiegelt sich heute auch im Äußeren des nun über vierzigjährigen, unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes wider. Besonders bedauerlich ist, daß in der ersten Hälfte der neunziger Jahre ein Diskoveranstalter den Zuschauerraum umfunktionierte und Schäden an der Inneneinrichtung verursachte. Diese Spuren zu beseitigen und das Haus vor weiterem Verfall zu retten, wurde ein Förderverein "Kulturhaus Mestlin" e.V. gegründet, dem der in Mestlin ansässige Torsten Kort vorsteht. Unter seiner Leitung wurde bereits der Klubraum wiederhergestellt und eine inhaltliche Neubelebung des Hauses als Veranstaltungsort und Jugendklub initiiert. Die übrigen Räume sind gegenwärtig gar nicht (Zuschauerraum und Bühne) oder nur eingeschränkt nutzbar (Küche, Sanitäreinrichtungen).

© 1999, 2000 Peter Huth, Mitglied im Förderverein - jegliche Weiterverwendung, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Autors.

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